Selten wurde eine amour fou so wunderbar erzählt

François-Henri Désérable - „Mein Meister und Bezwinger“

von Frank Becker

Kairos*
 
Selten wurde eine amour fou so wunderbar erzählt
 
Wer wäre nicht schon einmal so verzweifelt, so hemmungslos verliebt gewesen wie Tina und Vasco? Über wen wäre nicht schon einmal dieser gewaltige Sturm, diese alles verzehrende glühende Leidenschaft hereingebrochen? Gut, dann wissen Sie ja, wovon François-Henri Désérables Roman „Mein Meister und Bezwinger“ erzählt.
 
Erlauben Sie mir, hier teilweise den trefflichen Verlagstext zu diesem außergewöhnlich anregenden Roman zu zitieren, der mit allem Recht im Jahr 2021 mit dem „Grand prix du romande l´Académie francaise“ ausgezeichnet wurde:
Vasco und Tina verfallen einander – dabei will Tina in wenigen Wochen Edgar, den Vater ihrer Zwillinge, heiraten. Was klingt wie eine tausendfach erzählte Dreiecksgeschichte, entpuppt sich bei François-Henri Désérable als charmantes, vor Esprit prickelndes Liebes- und Leseabenteuer.“ Sie tun das mit einer Leidenschaft, die keine Grenzen zu kennen scheint, zu rasend – und literarisch – ist ihr Begehren. Wir schlagen das Buch auf und folgen mit wachsender Spannung und Neugier der Erzählung eines nicht zu identifizierenden Vertrauten  beider, der vor einem Untersuchungsrichter – es muß zu einem Zwischenfall, vielleicht einem Verbrechen aus Leidenschaft gekommen sein – Ereignisse, Beweggründe und Hintergründe der Geschehnisse. Ein ungewöhnlich gut informierter Zeuge, notabene …

Für Vasco, Bibliothekar der Bibliothèque nationale de France, und Tina, die Schauspielerin, die jeden Morgen zwischen zwei Tassen Kaffee Gedichte von Verlaine und Rimbaud rezitiert, ist die Literatur ein unentbehrliches Liebeselixier. Vasco schreckt nicht einmal vor dem Diebstahl jener Schatulle zurück, in der das Herz von Voltaire aufbewahrt wird, oder vor dem Einsatz des Revolvers, mit dem Verlaine 1873 auf Rimbaud schoß.“ Besagter Richter und unser intimer Cicerone durch das Lieben und Leiden Vascos und Tinas, offenbar ihr bester Freund, tauschen sich anhand eines Notizhefts Vascos auf hoher Ebene in einem Diskurs über französische Literatur, vor allem die Dichtungen Verlaines, Rimbauds, Apollinaires, Aragons, Baudelaires, Prousts und Stendhals aus und diskutieren über die Formen von Sonett und Haiku. Nicht alles, was der Erzähler uns wissen läßt – die erotischen Begegnungen der in einer leidenschaftlichen amour fou glühenden Liebenden und die Mordgedanken Vascos bleiben unter uns, den Leserinnen und Lesern – gibt er auch dem Richter preis, wenn er ihm die Gedichte Vascos entschlüsselt.
 
Die Liaison fliegt auf, dem Skandal folgen quälende Monate (für alle) mit Verzweiflung, Mord- und Suizid-Gelüsten. Dann geschieht eben das, was unseren Erzähler ins Büro des Untersuchungsrichters und Vasco vor Gericht bringt.
Dieser Roman macht Lust auf die zitierte und erwähnte französische Lyrik, auf Verse wie die von Paul Verlaine, die dem Roman den Titel geben:
„Ist voller Spott dein Herz,
ist es empfindsam, sachte?
Nichts weiß ich, doch ich danke der Natur
die mir dein Herz zum Meister und Bezwinger
machte.“
 
Es ist ein so schönes Buch, einschließlich der kongenialen Umschlagillustration und einschließlich der brillanten Übersetzung von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz, daß man ihn und seine Protagonisten in sich spürt, mit ihnen liebt und leidet. Wir geben ihm unser Prädikat, den Musenkuß.
 
* Kairos (altgriechisch Καιρός Kairós) = Religiös-philosophischer Begriff für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung
 
François-Henri Désérable - „Mein Meister und Bezwinger“
Roman
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz - mit den Lyrik-Texten im französischen Original im Anhang
© 2023 Rotpunktverlag, 216 Seiten, gebunden, Lesebändchen - ISBN 978-3-03973-001-8, 1. Auflage
24,- €
 
Dieser Titel ist auch als E-Book erhältlich
Weitere Informationen: https://rotpunktverlag.ch